Wie können Organisationen dazu beitragen, dass Ehrenamtliche sich langfristig engagieren und nicht demotiviert werden? – Der funktionale Ansatz ehrenamtlichen Engagements

Ziel dieses Beitrags ist es Wege aufzuzeigen, wie sich die Zufriedenheit mit dem Engagement und auch die Dauer des Engagements von Ehrenamtlichen im Kontext Flucht und Migration erhöhen lassen. Dabei wird von einem funktionalen Ansatz ehrenamtlichen Engagements ausgegangen, der im Kern annimmt, dass Ehrenamtliche umso zufriedener mit ihrem Engagement sind (und sich umso länger engagieren), je mehr das Engagement ihre zentralen Motive oder Bedürfnisse erfüllt. Der Beitrag richtet sich in erster Linie an Personen, die für die Anwerbung, Koordination, Leitung und/oder Supervision von Ehrenamtlichen verantwortlich sind, aber auch an Ehrenamtliche selbst, die ihre Zufriedenheit mit der Tätigkeit erhöhen möchten.

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1.) Der funktionale Ansatz ehrenamtlichen Engagements

Der funktionale Ansatz ehrenamtlichen Engagements befasst sich mit den Fragen a) warum Menschen sich dazu entscheiden, sich ehrenamtlich zu engagieren und b) warum sie dieses Engagement über einen längeren Zeitraum aufrecht erhalten[1]. Der Ansatz nimmt an, dass Menschen sich u. a. deshalb ehrenamtlich engagieren, weil sie durch die damit verbundene Tätigkeit eigene humanitäre und prosoziale Werte ausdrücken, Wissen und Erfahrungen sammeln, die eigenen Karriereoptionen verbessern, ihr Selbstwertgefühl und das Gefühl wichtig zu sein steigern, sich von ihren eigenen Problemen ablenken und sich in eine Gruppe eingebunden fühlen können (siehe Tabelle 1)[2].

Tabelle 1: Funktionen freiwilligen Engagements nach Clary et al. (1998)

Funktion Beschreibung
Wertefunktion Das freiwillige Engagement ermöglicht es, sich im Einklang mit persönlichen humanitären und prosozialen Werten zu verhalten, z. B. indem man einer hilfsbedürftigen Person hilft.
Erfahrungsfunktion Das freiwillige Engagement ermöglicht es, Wissen und praktische Erfahrungen über den Tätigkeitsbereich, sich selbst oder andere zu erwerben, z. B. indem man sich in neue Gebiete einarbeitet.
Karrierefunktion Das freiwillige Engagement ermöglicht es, eigene Karriereoptionen zu verbessern, z. B. indem man Kontakte knüpft, die für die berufliche Karriere hilfreich sein können.
Selbstwertfunktion Das freiwillige Engagement ermöglicht es, den eigenen Selbstwert und das Gefühl wichtig zu sein zu steigern, z. B. indem man das Gefühl bekommt, gebraucht zu werden.
Schutzfunktion Das freiwillige Engagement ermöglicht es, sich von eigenen Problemen abzulenken und eigene negative Gefühle zu reduzieren, z. B. indem man sich während des Engagements weniger einsam fühlt.
Soziale Anpassungsfunktion Das freiwillige Engagement ermöglicht es, sich in eine Gruppe eingebunden zu fühlen und die Erwartungen des sozialen Umfelds zu erfüllen, z. B. indem man mit Freund*innen etwas gemeinsam tut oder neue Freundschaften knüpft.

 

Wenn für eine Person z. B. vor allem die Selbstwertfunktion im Vordergrund steht, sie sich also mehr oder weniger bewusst eine Steigerung des Gefühls gebraucht zu werden und wichtig für andere zu sein von ihrem ehrenamtlichen Engagement erhofft, wird die Person nach dem funktionalen Ansatz auch vornehmlich Organisationen oder einzelne Tätigkeiten innerhalb einer Organisation attraktiv finden, die diese Funktion erfüllen. Diese „Passung“ zwischen Motiven und Bedürfnissen der Ehrenamtlichen und der Tätigkeit ist aber nicht nur für die Aufnahme des Engagements relevant, sondern auch für die Zufriedenheit mit und die Aufrechterhaltung bzw. Dauer des Engagements: Hierfür ist entscheidend, ob und inwieweit die Motive, die anfangs zur Aufnahme der ehrenamtlichen Tätigkeit führten, tatsächlich durch die Erfahrungen im Rahmen des Engagements befriedigt werden[1][3][4]. So ist ein wesentlicher Grund für zunehmende Unzufriedenheit mit dem Engagement und letzten Endes für einen frühzeitigen Abbruch der Tätigkeit oftmals die fehlende Passung. Erwartet man beispielweise, durch das Engagement für Geflüchtete primär Neues über andere Länder und Kulturen zu lernen und praktische Erfahrungen im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen zu sammeln (Erfahrungsfunktion) und erfüllt die Tätigkeit diese Erwartung nicht, da man vorwiegend im administrativen Bereich einer ehrenamtlichen Organisation eingesetzt wird, kann diese fehlende Passung die Zufriedenheit mit dem Engagement verringern und die Wahrscheinlichkeit eines Abbruches erhöhen[1][5].

2) Wie lassen sich Zufriedenheit und Dauer des Engagements erhöhen?

Aus dem funktionalen Ansatz lassen sich eine Reihe verschiedener Strategien ableiten, die sich förderlich auf die Rekrutierung von Ehrenamtlichen, ihre Zufriedenheit mit der Tätigkeit und die Dauer ihres Engagements auswirken können[5][6].

2.1) Betonung von Funktionen bei der Außendarstellung

Forschung legt nahe, dass Personen, die planen sich ehrenamtlich zu engagieren, sich vor allem von solchen gemeinnützigen Organisationen angesprochen fühlen, die ihre individuelle Motivstruktur befriedigen können. So sollten z. B. für Personen, für die die Erfahrungsfunktion und die soziale Anpassungsfunktion im Vordergrund stehen, insbesondere solche ehrenamtlichen Organisationen oder Tätigkeiten attraktiv sein, die ihnen die Möglichkeit bieten, gemeinsam in der Gruppe (soziale Anpassungsfunktion) etwas über fremde Kulturen zu erfahren (Erfahrungsfunktion)[1][7]. Gemeinnützige Organisationen können daher bereits bei ihrer Außendarstellung (z. B. auf der Homepage, bei der Darstellung in sozialen Medien) gezielt aufzeigen, welche der zentralen Funktionen im Rahmen des Engagements befriedigt werden können („Möchten Sie gemeinsam mit anderen Menschen Ihren kulturellen Horizont erweitern?“). So können interessierte potentielle Ehrenamtliche besser abschätzen, ob die Organisation bzw. die Tätigkeiten zu ihnen „passen“, und Unzufriedenheit kann vorgebeugt werden. Dies gilt allerdings nur dann, wenn die aufgezeigten Möglichkeiten in der Organisation auch tatsächlich vorhanden sind. Wirbt eine Organisation z. B. damit, dass das Engagement vielfältige soziale Kontakte ermöglicht, und hält dieses Versprechen dann nicht, werden Ehrenamtliche, die durch diese Aussichten „angelockt“ wurden, höchstwahrscheinlich zunehmend unzufriedener und beenden ihr Engagement schließlich sogar vorzeitig.

2.2) Schaffung entsprechender Strukturen innerhalb der Organisation

Es ist also wichtig, in den gemeinnützigen Organisationen auch tatsächlich die erforderlichen Strukturen zu schaffen, die für die Motivbefriedigung notwendig sind. Oftmals genügt es, bereits bestehende Strukturen weiter auszubauen bzw. zu fördern. So kann z. B. ein sporadisch stattfindendes Erfahrungsaustausch-Treffen von Ehrenamtlichen als regelmäßige Veranstaltung etabliert werden, um den Motiven, in eine Gruppe eingebunden zu sein und neue Freundschaften zu knüpfen (soziale Anpassungsfunktion) entgegenzukommen. Ähnlich können bereits existierende Informationsmaterialien oder –veranstaltungen erweitert werden, um den Erwerb neuen Wissens zu ermöglichen (Erfahrungsfunktion).

2.3) „Platzierung“ von Ehrenamtlichen innerhalb der Organisation

Ein weiterer Ansatz zur Förderung der Zufriedenheit mit der Tätigkeit und der Dauer des Engagements besteht darin, Ehrenamtliche innerhalb der Freiwilligeninitiative oder -organisation entsprechend ihren Motiven zu „platzieren“. Eine Person, deren Hauptmotiv im Erwerb von Wissen und dem Sammeln von Erfahrungen besteht, könnte z. B. edukative Aufgaben wie die Vermittlung von Wissen über verschiedene Länder und Kulturen an die Bevölkerung übernehmen. Die primären Motive der Ehrenamtlichen können in einem individuellen Gespräch oder auch mit Hilfe etablierter Fragebögen[1][2][8] ermittelt werden. Die Passung sollte auch nach der Aufnahme der Tätigkeit weiterhin im Auge behalten werden. Es bietet sich z. B. an, im Rahmen von regelmäßigen individuellen Supervisionsgesprächen mit den Ehrenamtlichen den Aspekt der Passung zu thematisieren und bei einer sich andeutenden Verringerung der Passung rechtzeitig gegenzusteuern (z. B. durch eine andere Platzierung innerhalb der Organisation).

Personen, die sich ehrenamtlich für Geflüchtete engagieren, sind oftmals besonderen Belastungen ausgesetzt (z.B. durch die direkte Konfrontation mit dem Trauma und dem Leid der Geflüchteten). Die hier dargestellten, aus dem funktionalen Ansatz ehrenamtlichen Engagements abgeleiteten Strategien können zusammengenommen dazu beitragen, dass die Ehrenamtlichen dennoch mit ihrer Tätigkeit zufrieden sind und ihr Engagement nicht vorzeitig beenden.

[1]Clary, E. G., Snyder, M., Ridge, R. D., Copeland, J., Stukas, A. A., Haugen, J., & Miene, P. (1998). Understanding and assessing the motivations of volunteers: A functional approach. Journal of Personality and Social Psychology, 74, 1516–1530. doi: 10.1037/0022-3514.74.6.1516

[2]Oostlander, J., Güntert, S. T, van Schie, S., & Wehner, T. (2014). Volunteer Functions Inventory (VFI): Konstruktvalidität und psychometrische Eigenschaften der deutschen Adaptation. Diagnostica, 60, 73-85. doi: 10.1026/0012-1924/a000098

[3]Omoto, A. M., & Snyder, M. (1995). Sustained helping without obligation: Motivation, longevity of service, and perceived attitude change among AIDS volunteers. Journal of Personality and Social Psychology, 68, 671–686. doi: 10.1037/0022-3514.68.4.671

[4]Stukas, A. A., Worth, K. A., Clary, E. G., & Snyder, M. (2009). The matching of motivations to affordances in the volunteer environment: An index for assessing the impact of multiple matches on volunteer outcomes. Nonprofit & Voluntary Sector Quarterly, 38, 5-28. doi: 10.1177/0899764008314810

[5]Stukas, A. A., Snyder, M., & Clary, E. G. (2008). The social marketing of volunteerism: A functional approach. In C. P. Haugtvedt, P. Herr, & F. Kardes (Eds.), Handbook of consumer psychology (pp. 959-979). Mahwah, NJ: Erlbaum.

[6]Siem, B. (in Druck). Freiwilliges Engagement im Kontext von Flucht und Migration. In A. Rohmann & S. Stürmer (Hrsg.), Die Flüchtlingsdebatte in Deutschland – Sozialpsychologische Perspektiven. Beiträge zur Angewandten Psychologie (Band 2). Frankfurt a M.: Peter Lang.

[7]Stürmer, S., & Benbow, A. E. F. (2017). Psychological foundations of xenophilia: Understanding and measuring the motivational functions of exploratory cross-cultural contact. Personality and Social Psychology Bulletin, 43, 1487-1502. doi: 10.1177/0146167217722555

[8]Stürmer, S., & Benbow, A. E. F. (2018). Messung motivationaler Funktionen interkulturellen Kontakts: Das Kontaktfunktionsinventar (KFI-30). Zusammenstellung sozialwissenschaftlicher Items und Skalen. doi:10.6102/zis258

Diesen Artikel bitte zitieren als: Siem, Birte. (2018). Wie können Organisationen dazu beitragen, dass Ehrenamtliche sich langfristig engagieren und nicht demotiviert werden? – Der funktionale Ansatz ehrenamtlichen Engagements. Online abrufbar unter https://www.fachnetzflucht.de/wie-koennen-organisationen-dazu-beitragen-dass-ehrenamtliche-sich-langfristig-engagieren-und-nicht-demotiviert-werden-der-funktionale-ansatz-ehrenamtlichen-engagements