Wie kann Angst vor dem Verlust der eigenen Kultur bei Geflüchteten begegnet werden?

Die Angst vor Kulturverlust in Folge von Migration ist eine der Herausforderungen, mit denen geflüchtete Menschen in Deutschland konfrontiert sind. In diesem Beitrag klären wir über verbreitete Missverständnisse auf Seiten der Aufnahmegesellschaft über die Rolle der Kultur des Herkunftslandes von Geflüchteten auf. Wir weisen darauf hin, unter welchen Bedingungen kulturelle Identitäten eine wertvolle Ressource für geflüchtete Menschen darstellen können. Dazu stellen wir konkrete Maßnahmen vor, die Institutionen ergreifen können, um geflüchtete Menschen bei der Herausbildung und Bewahrung kultureller Identitäten zu unterstützen.

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Geflüchtete Menschen, die erst seit kurzem in Deutschland leben, äußern häufig Angst vor dem Verlust der eigenen Kultur als Folge von Migration.[1] Diese Angst kann damit zu tun haben, dass Teile der Aufnahmegesellschaft einen Zwang zur kulturellen Assimilation vermitteln. Assimilation wird in Deutschland oft mit dem Begriff „Integration“ verwechselt („Geflüchtete Menschen müssen sich integrieren“). Während Integration bedeutet, dass man sowohl eigene als auch neue kulturelle Aspekte übernimmt, bedeutet Assimilation, dass sich Geflüchtete die Kultur der Aufnahmegesellschaft vollständig aneignen und ihre Herkunftskultur aufgeben.[2] Häufig sind diese Annahmen mit überholten Vorstellungen von homogenen, das heißt einheitlichen und in sich geschlossenen Nationalkulturen („die eine deutsche Kultur“, „die eine syrische Kultur“) verbunden. So ist zunächst wichtig zu betonen, dass diese Vorstellungen von abgeschlossenen Nationalkulturen nicht der Wirklichkeit entsprechen. In der Regel haben sie wenig Bezug zu tatsächlichen Eigenschaften kultureller Gruppen. Zudem ignorieren diese Vorstellungen, dass Personen, die der gleichen sozialen Gruppe angehören (z. B. Herkunft aus dem gleichen Land), sich häufig genauso stark oder stärker untereinander unterscheiden als sie sich von Personen aus anderen sozialen Gruppen unterscheiden.[3] In anderen Worten: die Variation von Eigenschaften und Verhaltensweisen innerhalb sozialer Gruppen ist oft genauso groß oder größer als die Variation zwischen sozialen Gruppen.

In den folgenden Abschnitten beschreiben wir relevante Forschungsbefunde, die in erster Linie auf Untersuchungen mit Migrant*innen und nicht spezifisch mit Geflüchteten beruhen. Aufgrund der geteilten Erfahrung des Wechsels von einer Herkunfts- in eine Aufnahmekultur können diese Befunde beide Gruppen betreffen. Es gilt aber zu bedenken, dass Geflüchtete häufig vielen weiteren spezifischen Herausforderungen (z. B. Unfreiwilligkeit der Entscheidung, das Herkunftsland zu verlassen, traumatisierende Erlebnisse aufgrund der Fluchtursache im Herkunftsland sowie auf der Flucht, Sorge um die Situation im Herkunftsland und dort verbliebene Angehörige, Unsicherheit bezüglich des Aufenthaltsstatus und der Verweildauer im Aufnahmeland, unterschiedliche und sich u. U. ständig verändernde Rückkehrperspektive) ausgesetzt sind. Insofern sollte man vorsichtig damit sein, die an Migrant*innen gewonnenen Ergebnisse nahtlos auf Geflüchtete zu übertragen.

Bi-Kulturalismus als Regelfall

Personen haben Überzeugungen und Einstellungen über ihre Mitgliedschaft in einer kulturellen Gruppe. Solche Überzeugungen und Einstellungen, wie auch ihre Entwicklung verstehen wir als kulturelle Identität.[4] Die große Mehrheit von Migrant*innen lebt keine völlige Assimilation, sondern eine Form von Bi- oder Tri-Kulturalismus.[5] Sie kombinieren Elemente der Herkunftskultur mit Elementen der Kultur des Aufnahmelandes und teilweise weiteren kulturellen Elementen (z. B. globalisierter Jugendkultur) und entwickeln damit hybride Kulturformen. Diese sind mehr als die Summe der einzelnen kulturellen Elemente und lässt eigenständige Praktiken und Lebensformen entstehen.

Auch wenn Migrant*innen mehrheitlich bikulturell leben, unterscheiden sie sich darin, wie gut sie die Elemente unterschiedlicher Kulturen als miteinander vereinbar (oder in Konflikt miteinander) wahrnehmen.[6] Für das Zusammenbringen der Kulturen können dabei verschiedene Strategien angewendet werden:

  • Exploration (Auseinandersetzung damit, was es bedeutet zu einer bestimmten kulturellen Gruppe zu gehören)
  • Alternieren (z. B. „ich bin syrisch zu Hause und deutsch bei der Arbeit/in der Schule“)
  • Hybridisierung (z. B. „Ich bin eine Mischung aus syrisch und deutsch“).[7]

Dabei ist wichtig, zu unterstreichen, dass die Möglichkeit, kulturelle Identitäten, auszuleben, zu kombinieren und sie als vereinbar zu betrachten, mit psychologischem Wohlbefinden einhergeht[8], aber die Möglichkeit dazu maßgeblich von der Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft abhängt, die dazu nötigen Bedingungen zu schaffen. In anderen Worten, wem ständig vermittelt wird, „deine Kultur oder Religion passt nicht hierher“, der oder die wird es schwierig finden, Herkunfts- und Aufnahmekultur als vereinbar zu betrachten.

Risiken von Assimilationsdruck

Der Druck zu kultureller Anpassung, stellt nicht nur eine Form von Diskriminierung dar, sondern kann kontraproduktiv und mitunter gefährlich sein: für Individuen, die sich von der Aufnahmegesellschaft abgelehnt fühlen, ist es sehr viel schwieriger, sich mit dieser zu identifizieren – bei gleichzeitigem Druck, die eigene Herkunftskultur aufzugeben. Damit fehlt die Grundlage für eine eigene kulturelle Identität und es entsteht ein Gefühl der Marginalisierung, also der Ausgrenzung und Verdrängung an den Rand der Gesellschaft des Aufnahmelands. Dabei ist lange bekannt, dass Diskriminierungserfahrungen für die Betroffenen mit negativen Folgen für die physische und mentale Gesundheit verbunden sind.[9]

Zudem wurde festgestellt, dass sich Migrant*innen, die starke Diskriminierung erleben, häufig verstärkt ihren kulturellen Herkunftsidentitäten zuwenden.[10] Dies ist zwar individuell funktional, denn eine starke eigene kulturelle Identität hilft dabei, mit den negativen Folgen von Diskriminierung besser umzugehen.[11] Aus einer gesellschaftlichen Perspektive erschwert es jedoch den Zusammenhalt, da mit einer ausschließlichen Identifikation mit der Herkunftskultur soziale Abschottungsprozesse verbunden sein können.[12] Die Forschung zeigt zudem, dass es im Extremfall marginalisierten Individuen sein können, die ein erhöhtes Risiko für Radikalisierungsprozesse aufweisen.[13] Insofern ist es wichtig, dass sich Personen, die die Mehrheitsgesellschaft vertreten, über Möglichkeiten informieren, wie eine Marginalisierung vermieden und Geflüchtete mit ihren jeweiligen Herkunftsidentitäten gestärkt werden können.

Strategien, um die Angst vor Verlust der Herkunftskultur zu überwinden

Entwicklung einer kulturellen Identität

Prominente Modelle zur Identitätsentwicklung gehen davon aus, dass es für jede einzelne Person unabhängig von der Frage der Herkunft wichtig ist, sich zunächst mit den Inhalten und Praktiken der Herkunftskultur auseinanderzusetzen und diese zu erkunden und auszuloten, bevor sich die eigene Identität festigt.[14], [15], [16], [17] Jugendliche und Migrant*innen im jungen Erwachsenenalter, die sich mit ihrer kulturellen Identität auseinandergesetzt haben und sich über ihre eigene Identität im Klaren sind, haben ein höheres psychologisches Wohlbefinden.[18] Daher sollten Geflüchtete dabei unterstützt werden, ihre Herkunftskultur in Form von kulturellen Traditionen, Identitäten und Werten weiter zu pflegen. Dies umfasst die Bewahrung und das Ausleben von Sprachen, Kleidungsstil, Essgewohnheiten und (religiösen) Bräuchen. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit kulturellen Herkunftsidentitäten kann demnach eine wertvolle Ressource für Geflüchtete sein. Ein auf diesen Erkenntnissen aufbauendes Programm ist das „Identitätsprojekt“[19], das inzwischen auch in Deutschland umgesetzt wurde[20] und Jugendlichen aller kulturellen Hintergründe dabei helfen soll, ihre ethnisch-kulturelle Identität im Kontext Schule zu explorieren. Dazu liegt ein detailliertes Programm für acht Schulstunden vor, in denen Jugendliche angeregt werden, sich kritisch mit historischen und gegenwärtigen Fragen von ethnischer und kultureller Identität auseinanderzusetzen.[21] So wird zunächst das Konzept von Identität in seiner Vielschichtigkeit und Flexibilität (Identitäten können sich verändern) eingeführt. Jugendliche lernen, ihre Identität von Stereotypen zu unterscheiden. Es wird auf die Geschichte von Diskriminierung verschiedener Gruppen in der Gesellschaft eingegangen. Jugendliche setzen sich zudem mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinander, sowie mit Symbolen und Traditionen, die sich auf kulturelle Herkunft beziehen.19

Schaffung eines wertschätzenden Diversitätsklimas

Für Personen, die als Jugendliche oder Erwachsene zugewandert sind, besteht oftmals eine starke Trennung zwischen der Art und Weise, wie sie ihre Kultur in privaten vs. öffentlichen Räumen ausdrücken.[22] Aufgrund von diskriminierenden Erfahrungen oder weil sie befürchten, rassistisch ausgegrenzt zu werden, haben sie häufig das Gefühl, ihre Kultur nicht im öffentlichen Raum zeigen zu dürfen. So vermeiden sie z. B. das öffentliche Sprechen in ihrer Herkunftssprache. Ob Migrant*innen das Gefühl haben, das Ausleben ihrer Herkunftskultur auf den privaten Bereich beschränken zu müssen, hängt vom Umgang und der Wertschätzung von Diversität in einem sozialen Kontext (z. B. Bildungseinrichtung, Arbeitsstätte, Freizeiteinrichtung) ab. Die Forschung zeigt, dass in Schulen, wo kulturelle Diversität wertgeschätzt wird und wo jede*r gleichberechtigt behandelt wird (d. h. ein wertschätzendes Diversitätsklima vorherrscht), Schüler*innen ein höheres psychologisches Wohlbefinden haben und weniger Diskriminierung erfahren.[23] Insofern ist es wichtig, in Einrichtungen, die mit Geflüchteten zu tun haben, eine Sensibilisierung für die Relevanz des Diversitätsklimas für das Ankommen von Geflüchteten in der Aufnahmegesellschaft und konkrete Maßnahmen zu dessen Umsetzung zu fördern.[24]

Dabei sollten die Maßnahmen langfristig angelegt und tiefgreifend sein. So weisen Befunde aus Schulen darauf hin, dass punktuelle, kurzfristige Programme (z.B. multikulturelle Projekttage, Essensprojekte oder Anti-Diskriminierungs-Stellungsnahmen), nicht ausreichen, und unter Umständen sogar kontraproduktiv sein können.[25], [26] Eine aktuelle Studie zeigt, dass in Schulklassen mit einem multikulturellen Ansatz mit möglichst einfachen Darstellungen von Kulturen mehr Diskriminierungserfahrungen von Schüler*innen berichtet wurden, als in Schulklassen, in denen Kultur als dynamisch, vielfältig und individuell vermittelt wird.[27]

Reflektion und Abbau von rassistischen Strukturen

Identitätskonflikte sind jedoch nicht ausschließlich durch individuelle Anpassungsleistungen der Geflüchteten und etwaige Unterstützungen durch einzelne Institutionen beizulegen. Sie werden auch durch strukturellen Rassismus verstärkt, der den Alltag in öffentlichen und privaten Einrichtungen prägt und auch in Deutschland tief in der Mehrheitsgesellschaft verankert ist.[28] Letztendlich bedarf es auch eines gesellschaftlichen Wandels, um unterschiedliche Identitäten als gleichwertig anzuerkennen und Marginalisierung von Geflüchteten zu vermeiden.

Auf Ebene von Einzelperson, die mit Geflüchteten zusammenarbeiten, können erste Schritte sein:

  • sich mit eigenen Vorurteilen auseinandersetzen und Machtverhältnisse reflektieren
  • den Einfluss dieser Vorurteile auf die eigene Arbeit und die entsprechende Institution reflektieren
  • Verhalten nicht vorschnell der (vermeintlichen) Kultur einer Person zuschreiben
  • Förderung von respektvoller und wertschätzender Haltung gegenüber anderen

Dagegen sollte vermieden werden, migrierten Personen die Schuld daran zu geben, wenn sie keine neue kulturelle Identität herausbilden. So eine individualisierte Perspektive verkennt, unter welch herausfordernden Rahmenbedingungen (schwierige ökonomische Bedingungen, häufig sozialer Abstieg, ungleicher Zugang zu Bildung, Wohnraum und Arbeit sowie Diskriminierungserfahrungen) Anpassungsprozesse stattfinden.[29]

Wie wir dargestellt haben, gibt es einerseits viele Herausforderungen, denen sich Geflüchtete ausgesetzt sehen, aber andererseits auch viele Strategien, die umgesetzt werden können, um kulturelle Vielfalt als Stärke wahrzunehmen und ein gutes Zusammenleben zu ermöglichen.

 

Auf einen Blick
• Integration bedeutet nicht die vollständige Anpassung an die Kultur des Aufnah-melandes, sondern die Beibehaltung der Herkunftskultur unter Hinzunahme von Elementen der Aufnahmekultur.
• Damit kulturelle Identitäten zur persönlichen Ressource werden, müssen sie umfassend erkundet und ausgelotet werden.
• Das Diversitätsklima in einer Einrichtung oder Organisation entscheidet mit darüber, ob Geflüchtete ihre (Herkunfts-)kultur offen ausleben können.

 

Literatur

[1] Schouler-Ocak M., & Kurmeyer C. (2017) Abschlussbericht Study on Female Refugees: Repräsentative Untersuchung von geflüchteten Frauen in unterschiedlichen Bundesländern in Deutschland. https://female-refugee-study.charite.de/fileadmin/user_upload/microsites/sonstige/mentoring/Abschlussbericht_Final_-1.pdf

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[20] Juang, L. P., Umaña-Taylor, A. J., Schachner, M. K., Frisén, A., Hwang, C. P., Moscardino, U., Motti-Stefanidi, F., Oppedal, B., Pavlopoulos, V., Abdullahi, A. K., Barahona, R., Berne, S., Ceccon, C., Gharaei, N., Moffitt, U., Ntalachanis, A., Pevec, S., Sandberg, D. J., Zacharia, A., & Syed, M. (2022). Ethnic-racial identity in Europe: Adapting the identity project intervention in five countries. European Journal of Developmental Psychology, 1–29. https://doi.org/10.1080/17405629.2022.2131520

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[22] Portes, A., & Rumbaut, R. G. (2006). Immigrant America: A Portrait. University of California Press.

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[27] Schachner, M. K., Schwarzenthal, M., Moffitt, U., Civitillo, S., & Juang, L. (2021). Capturing a nuanced picture of classroom cultural diversity climate: Multigroup and multilevel analyses among secondary school students in Germany. Contemporary Educational Psychology, 65, 101971. https://doi.org/10.1016/j.cedpsych.2021.101971

[28] Nationaler Diskriminierungs- & Rassismusmonitor (2022). Rassistische Realitäten: Wie setzt sich Deutschland mit Rassismus auseinander? DeZIM: Deutsche Zentrum für Integration und Migrationsforschung. https://policycommons.net/artifacts/2468356/rassistische-realitaten/3490299/

[29] Szabó, Á. (2022). Addressing the causes of the causes: Why we need to integrate social determinants into acculturation theory. International Journal of Intercultural Relations, 91, 318–322. https://doi.org/10.1016/j.ijintrel.2022.01.014

 

Bitte zitieren als: Jugert, P., Civitillo, S., Ialuna, F., Kaiser, M. J. & Mayer, A.-M. (2023). Wie kann Angst vor dem Verlust der eigenen Kultur bei Geflüchteten begegnet werden? Online abrufbar unter http://www.fachnetzflucht.de/wie-kann-angst-vor-dem-verlust-der-eigenen-kultur-bei-gefluech-teten-begegnet-werden