Wie können wir Zugehörigkeit von Geflüchteten fördern?

Geflüchtete kommen nicht nur formal über Sprache und Arbeit in einem neuen Land an, sondern auch psychologisch, über ihre Identität. Dieser Beitrag beschreibt, wie unterschiedlich Geflüchtete ihre Identität neu verhandeln und welche Auswirkungen das auf ihr Zugehörigkeitsgefühl und ihr allgemeines Wohlbefinden hat. Außerdem gibt der Beitrag Hinweise dazu, wie Geflüchtete bei diesem Prozess unterstützt werden können.

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Vor allem für Geflüchtete, die ohne formalen Status und nicht selten alleine in einem neuen Land ankommen, ist es eine große Herausforderung, ein neues Gefühl von Zugehörigkeit zu konstruieren. Viele Maßnahmen zur Unterstützung von Geflüchteten adressieren aktuell eher formale Aspekte der Integration wie Sprache und Arbeit (siehe dazu den ersten Satz der Integrationsinformation des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge[1]).

Die formale Integration von Migrant*innen in die Aufnahmegesellschaft ist jedoch keine Garantie dafür, sich in einem neuen Land zugehörig zu fühlen. Menschen können einen festen Job haben, ohne sich wirklich akzeptiert zu fühlen. Zusätzlich müssen sie sich der Frage stellen, wie sie ihre neu erworbene Identität als Mitglieder eines neuen Landes mit ihrer ursprünglichen kulturellen Identität vereinbaren. Dem Psychologen John Berry[2] zufolge gibt es vier Möglichkeiten, diese Frage zu lösen:

Migrant*innen können sich entscheiden, ihre ursprüngliche kulturelle Identität völlig loszulassen und stattdessen die Mitgliedschaft des Gastlandes zu übernehmen. Diese Strategie wird als Assimilation bezeichnet. Alternativ kann man es vorziehen, die ursprüngliche Identität zu behalten und sich eher nicht mit der neuen auseinander zu setzen. Diese Strategie wird Separation genannt. Wir sprechen von Integration, wenn sowohl die neue Identität angenommen als auch die ursprüngliche Identität beibehalten wird und Kontakt mit sowohl der neuen Kultur als auch das Beibehalten von Aspekten der ursprünglichen Kultur gewünscht ist. Jahrzehntelange Forschung kommt zu dem Schluss, dass Integration die Strategie mit den meisten positiven Ergebnissen für Gesundheit und Wohlbefinden der Migrant*innen ist[3] sie sollte nicht mit Assimilation verwechselt werden. Schließlich besteht, als vierte Option, jedoch die Gefahr, dass Migrant*innen ein Gefühl der Zugehörigkeit weder zu ihrer ursprünglichen Gruppe noch zur neuen Gesellschaft fühlen. In solchen Fällen sprechen wir von psychologischer Marginalisierung, also dem Mangel an Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Diese Strategie ist mit besonders niedrigem Wohlbefinden verbunden und erhöht darüber hinaus das Risiko der Übernahme radikaler Einstellungen (s. „Zugehörigkeit als Schutz vor Radikalisierung[4]“).

Die meisten der Muslim*innen in Deutschland wollen mit der deutschen Kultur und Deutschen in Kontakt treten und sich integrieren[5]. Wir sollten daher keinen Druck ausüben, sich zwischen den Kulturen zu entscheiden, denn Druck ist kontraproduktiv: Er fördert Gefühle von Marginalisierung und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit für die Unterstützung radikaler Einstellungen. Anstelle von Furcht fördern Interesse und Wertschätzung für andere kulturelle und religiöse Traditionen das Gefühl von Akzeptanz – dies gilt natürlich insbesondere auch gegenüber den neuankommenden Geflüchteten.

Es gibt sogar schon viele Initiativen, die aktuell das Kennenlernen der neuen deutschen Kultur und ihrer Menschen adressieren. Um die deutsche Kultur kennenzulernen, bieten Bibliotheken[6] zum Beispiel kostenlose Benutzerausweise oder „Willkommensmedien“ an, Museen Führungen und Workshops, und Hochschulen machen Schnupperstudiumswochen[7]. Initiativen, die den Kontakt zwischen Deutschen und Geflüchteten fördern, sind zum Beispiel Sportvereine, die kostenlose Mitgliedschaften anbieten (unterstützt z. B. durch den DFB und seine Initiative „1:0 für ein Willkommen[8]). Auch gärtnern[9] Anwohner*innen mit ihren neuen Nachbar*innen. „Flüchtlinge Willkommen[10]“ vermittelt Geflüchtete in Wohngemeinschaften mit Menschen aus der Aufnahmegesellschaft.

Auch die Erhaltung und Wertschätzung der Ursprungskultur wird schon durch einige Initiativen gefördert. An der Kunsthochschule Berlin Weißensee[11] etwa lernen Studierende von geflüchteten Künstler*innen Techniken und Handwerk aus deren Heimat. Auch der seit einigen Jahren angebotene islamische Religionsunterricht, z. B. in NRW[12], ist ein wertvoller Schritt.

Erste Ansätze gibt es auch für eine Verbindung beider Kulturen. Bei Querstadtein[13] zeigen Geflüchtete als Stadtführer*innen „ihr Berlin“ und bringen dabei ihre Ursprungskultur ein. Im Projekt „Multaka: Treffpunkt Museum[14]“ nutzen neu ausgebildete arabische Guides Museumsobjekte als Ausgangspunkt für eine Reflexion über die Verbindungen zwischen Syrien, Irak und Deutschland. In einem Foodfusion-Projekt[15] kreieren Köch*innen mit Geflüchteten Gerichte aus alter und neuer Heimat, die dann in einem Kochbuch veröffentlicht werden.

Laut psychologischer Forschung wäre es aber wünschenswert, wenn der Fokus der Initiativen sich in Zukunft zunehmend verschieben würde: Vom – wertvollen, aber nicht ausreichenden – Kennenlernen der Aufnahmekultur hin zu einer gleichwertigen Identifizierung mit Aufnahme- und Ursprungskultur. Insbesondere wären auch Initiativen interessant, die das persönliche Zugehörigkeitsgefühl ganz explizit thematisieren oder die Bedeutung von Zugehörigkeit zu beiden Kulturen auf gesellschaftspolitischer Ebene noch stärker unterstreichen. Nicht zuletzt wäre es auch wünschenswert, dass bestimmte Initiativen – wie kostenlose Mitgliedschaften, Tickets etc. – sich nicht ausschließlich an Geflüchtete richteten, die eine finanzielle Unterstützung benötigen, sondern auch an finanziell schlechter gestellte Zielgruppen im Allgemeinen. Dadurch könnte einerseits auch für diese gesellschaftliche Teilgruppe die Integration gefördert werden; auf den ersten Blick gehören diese Menschen zwar zur „Mehrheitsgesellschaft“, trotzdem besteht auch hier eine Gefahr von Marginalisierung und der Übernahme radikaler Einstellungen. Andererseits nähme auf diese Weise die Bedeutung des Merkmals „Geflüchtete“ und damit die Rolle als Außenseiter ab, sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdwahrnehmung. Obwohl sich viele Geflüchtete vielleicht nicht so schnell als Deutsche fühlen können, könnten sie auf diese Weise Zugehörigkeit über andere Gruppen aufbauen, zum Beispiel als Stadtteilbewohner*innen, Fußballvereinsmitglieder, etc. Die Initiativen würden so das Zugehörigkeitsgefühl von Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit genauso fördern wie die von Neuankömmlingen.

 

[1] http://www.bamf.de/DE/Willkommen/DeutschLernen/Integrationskurse/integrationskurse-node.html

[2] Berry, J. W. (1997). Immigration, acculturation, and adaptation. Applied Psychology, 46(1), 5-34.

[3] Berry, J. W. (2005). Acculturation: Living successfully in two cultures. International Journal of Intercultural Relations, 29(6), 697-712.Egmond_Zugehörigkeit fördern_formatiert

[4] siehe Beitrag „Zugehörigkeit als Schutz vor Radikalisierung?“ auf der FSFI-Homepage

[5] Frindte, W., Boehnke, K. Kreikenbom & Wagner, W. (2012). Lebenswelten junger Muslime in Deutschland: Ein sozial- und medienwissenschaftliches System zur Analyse, Bewertung und Prävention islamistischer Radikalisierungsprozesse junger Menschen in Deutschland. Berlin: Bundesministerium des Innern – Schriften zur inneren Sicherheit, pp. 44–105. Verfügbar online: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2012/junge_muslime.html

[6] http://www.berlin.de/stadtbibliothek-steglitz-zehlendorf/aktuelles/artikel.317364.php

[7] https://www.htw-berlin.de/international/unterstuetzung-fuer-gefluechtete/

[8] http://www.egidius-braun.de/engagement-fuer-fluechtlinge/

[9] http://www.garten-der-hoffnung.net/

[10] http://www.fluechtlinge-willkommen.de/

[11] http://seegewohnheiten.kommenundbleiben.de/

[12] https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Schulsystem/Unterricht/Lernbereiche-und-Faecher/Religionsunterricht/Islamischer-Religionsunterricht/

[13] http://querstadtein.org/de/stadtfuehrungen/gefluechtete-zeigen-ihr-berlin/

[14] http://www.smb.museum/museen-und-einrichtungen/museum-fuer-islamische-kunst/sammeln-forschen/forschung-kooperation/multaka-treffpunkt-museum-gefluechtete-als-guides-in-berliner-museen.html

[15] https://ueberdentellerrandkochen.de/de/projects/de/projects/read/g4sf5ehhex/

Diesen Artikel bitte zitieren als: van Egmond, M. & Hegmans, J. (2018). Wie können wir Zugehörigkeit von Geflüchteten fördern? Fachnetz Flucht, 1. Verfügbar unter https://www.fachnetzflucht.de/zugehoerigkeit-als-schutz-vor-radikalisierung-2/

Veröffentlicht am 30.04.2018